Was bewegt einen Pastor, die Gemeinde zu wechseln?
Spiderman – Homestory 13. Januar 2022
Pastoren sind wie Spiderman.
Sie sind Netzwerker, sie spinnen manchmal, sind an der Rettung von Menschen beteiligt – müssen aber ihr verborgenes Heldentum verschweigen, sie müssen sich flexibel bewegen können … und unbedingt den richtigen Augenblick zum Absprung erwischen.
Das folgende Interview enthüllt, wie zwei pastorale Spidermen unmittelbar vor dem ersten Lockdown den Absprung geschafft haben: Der eine (Daniel Schnepel) den Sprung in die pastorale Hauptverantwortung der Christus-Gemeinde Barmbek-Süd in Hamburg, der andere den Sprung ins Pastorat einer Hauptstadtgemeinde – der Lukas-Gemeinde in Berlin (Matthias Pache).
Sie geben Einblicke in ihre verborgenen Kämpfe zwischen den Großstadtschluchten und hinter ihrer Maske, sie berichten von alten Seilschaften, neu geknüpften Verbindungen und dem großen Sprung ins Ungewisse.
Johannes: Hallo Matthias und Daniel! Im vergangenen Jahr habt ihr einschneidende Veränderungen in eurem Leben und Eurem Dienst als Pastor erfahren @Matthias: Wann genau seid Ihr eigentlich nach Berlin umgezogen?
Matthias: Wir sind als Familie im Mai 2020 umgezogen.
Johannes: O Mann. Corona verschiebt irgendwie massiv mein Zeitempfinden – so lange ist das doch schon her! Wann und wie hat sich das eigentlich bei Euch angebahnt?
Matthias: Etwa im August 2018 hat Sven Godau als Bundesältester das übliche Dienstgespräch mit meiner Frau Bianca und mir geführt. Mittendrin tauchte auf einmal die Frage auf, ob wir nach vielen Dienstjahren in Hamburg mal über einen Wechsel in eine andere Gemeinde nachdenken würden. Irgendwie ist diese Frage in Bianca und mir ‚explodiert‘ – wir haben uns hinterher angeschaut und festgestellt: Das hat uns gleichermaßen in Bewegung gesetzt. Damit begann ein ernsthaftes Beten und Fragen, ob Gott will, dass wir uns in diesem Sinne bewegen. Sehr bald wurde uns klar, dass dieser geistliche Impuls auch menschlich betrachtet sehr sinnvoll wäre: Wir waren schon bald 15 Jahre in Hamburg. Der Gemeinde ging es gut, ich hatte mit Daniel einen begabten Kollegen, den wir wahrscheinlich nicht anders als durch eine neue Herausforderung hätten halten können. Wir wollten weiter wachsen, gingen auf ein großes Bauprojekt zu. Da haben wir uns gefragt, ob nicht Daniel als Identifikationsfigur der jungen Generation der richtige Mann wäre, die Gemeinde auf die nächste Ebene zu bringen. Relativ schnell haben Bianca und ich dann festgestellt, dass die Lukas-Gemeinde in Berlin die einzige attraktive Alternative im Mülheimer Verband für uns wäre. Gleichzeitig haben wir gebetet, dass Gott uns bereit macht überall hin zu gehen, wo er uns haben will. Irgendwann gab es dann Kontakt zur Lukas-Gemeinde, aber es hat noch länger gedauert, bis ein Wechsel spruchreif war: Erst im Januar 2020 erfolgte die Berufung durch die Mitgliederversammlung der Lukas-Gemeinde.
Johannes: @Daniel – kannst Du dich an den Moment erinnert, als Matthias Dich ins Vertrauen gezogen und dir von seinen Wechselplänen erzählt hat …? Wie war das für dich?
Daniel: Das war … blöd, um das mal in Schriftsprache zu sagen. Mir ging es gut, aus meiner Sicht gab es keinen Anlass für eine Veränderung. Es war traurig und schmerzhaft. Da gab es eben immer diese verschiedenen ‚Hüte‘, die ich versucht habe zu sortieren: Matthias war anfangs mein Chef und mein Kollege und wurde immer mehr mein Freund. Trotzdem habe ich versucht, mich mit ihm zu freuen und mitzufiebern und das größere Bild zu sehen.
Johannes: @Matthias: Weißt Du noch genauer, wann Du Daniel ins Vertrauen gezogen hast? Ein Pastorenwechsel ist ja durchaus eine brisante Information, die mal als ‚Hirte‘ nicht gleich im nächsten Hauskreis seinen ‚Schafen‘ mitteilt.
Matthias: Als ich angefangen habe mit Berlin zu sondieren – vor der ersten Kontaktaufnahme unter diesem Vorzeichen –, habe ich einen Ältesten aus der Gemeindeleitung in Hamburg informiert und mich mit ihm beraten. Soweit der erste ‚formelle‘ Schritt. Aber Daniel war ja nicht nur mein Kollege, sondern auch mein Freund. Je konkreter die Überlegungen wurden, desto mehr wuchs die Spannung und das Bedürfnis, das mit ihm zu teilen. Ich konnte es nicht verheimlichen. Im April 2019 also relativ am Anfang noch, habe ich ihm davon erzählt.
Daniel (lacht): … auf einer Spielplatzbank!
Matthias: Ja, ich weiß es noch wie heute. Die Gemeindeleitung in Hamburg hat dann im September 2019 davon erfahren. Eine Entscheidung in Berlin stand zwar noch aus, aber das Interesse war ernsthaft und unsere Wechselabsichten konkret. Das war für mich schon auch ein Sprung ins Ungewisse und für die erst frisch gewählte Gemeindeleitung nicht so einfach. Im November entschied sich dann die Leitung der Lukas-Gemeinde für mich und zwei Wochen später sind Daniel und ich dann schon zur Theologischen Leitertagung („TLT“, die Pastorenkonferenz des MV) gefahren, um im Kollegenkreis nach einem Pastor zur suchen, der Daniel zukünftig ergänzen könnte.
Johannes: Das führt mich zu meiner nächsten Frage an Dich, @Daniel – war es für Dich von vorn herein klar, dass Du in die Nachfolge von Matthias eintrittst und leitender Pastor von Barmbek-Süd wirst …?
Daniel: Matthias hat zwar schon in unserem ersten Gespräch den Wunsch geäußert, dass ich sein Nachfolger werde. Aber dann sind eigentlich zwei Prozesse parallel abgelaufen: Einmal musste ich in Teilen die Ehrfurcht vor der neuen Rolle ablegen. Matthias hat mich als mein Ausbilder stark geprägt und damit auch mein Bild von einem leitenden Pastor. Es galt, sich davon zu lösen und ein eigenes Profil als leitender Pastor in mir zu erkennen: Ich muss es auf meine Art machen und damit rechnen, dass Gott sich zu mir stellt. Zum anderen nötigte mich schlichtweg der ‚Kontakt mit der Realität‘, mich mit der Rolle des leitenden Pastors anzufreunden: Ich war seit 8 Jahren in der Gemeinde und ich würde zumindest übergangsweise pastorale Hauptverantwortung übernehmen, selbst wenn ich mich gegen die Aufgabe als leitender Pastor entschieden hätte. Dem wollte ich mich einfach stellen, mal unromantisch gesagt.
Johannes: Konkret nachgefragt – habt ihr bei der TLT 2019 nach einem Nachfolger für Matthias gesucht, oder nach einem Nachfolger für dich als Jugendpastor?
Daniel: Wir haben einfach nach einem neuen Kollegen gesucht. Es war für mich nicht so leicht, weil der Abschied von Matthias für mich noch sehr im Vordergrund stand.
Matthias: Was dazu noch wichtig ist: Ich habe sofort gesagt, dass Daniel das machen soll, dass er der richtige Mann für meine Nachfolge ist – aber es war klar, dass die Gemeindeleitung das entscheidet, und nicht ich. Die Leitung sah das aber ganz genauso und hat direkt im Oktober 2019 Daniel angefragt – es gab keinen Zweifel, dass er der richtige ist.
Johannes: @Daniel – gleich die nächste Frage. Dein Einstand in die pastorale Hauptverantwortung folgte ja einem wahrhaft absurden Drehbuch: Kaum war Matthias weg, kam der erste Lockdown und die Corona-Krise. Ich weiß nicht, ob Du mal diese Sondersituation aus deiner Erinnerung herausfiltern kannst – hat sich dein Dienstprofil mit den neuen Aufgaben der Hauptverantwortung geändert, hast Du an Dir wahrgenommen, dass Neues wächst, hast Du neue Seiten an Dir entdeckt? Erzähl uns mal.
Daniel: Corona und der Beginn der Hauptverantwortung – ich kann das eigentlich nicht trennen und frage mich manchmal, ob das böse Erwachen erst noch kommt, wenn ich entdecke, was ein leitendes Pastorat in ‚normalen Zeiten‘ bedeutet. Was mir tatsächlich liegt, ist: Entscheidungen zu treffen. Davor habe ich wenig Angst und das hat mir zum Einstand eher geholfen, weil das einfach durch die Situation gefordert war. Nach der guten Vorbereitung durch die unbedingte Empfehlung von Matthias und der Leitung gegenüber der Mitgliederversammlung war das am Ende ein Faktor, der mir hineingeholfen hat. Matthias und ich hatten in den Jahren zuvor einen starken Gleichklang in Leitungsfragen. Durch diese massive Zäsur kam ich weder vor mir selbst noch vor der Gemeinde in den Verdacht, Dinge bewusst anders zu machen nach dem Abschied von Matthias. Formal hat sich natürlich einiges verschoben: Ich leite die Gemeindeleitungssitzungen. Durch die Einführung von neuen Anstellungsverhältnissen sind es jetzt mehrere Angestellte in Teilzeit, die ich begleite. Irgendwie ist die ‚Flughöhe‘ größer geworden, manche schöne Aufgabe ist dazu gekommen. In meiner Selbstwahrnehmung ist natürlich auch die Belastung höher: Ich muss mich kümmern, weil sich sonst niemand kümmert, die Letztverantwortung liegt bei einem. Ich bin zwar freier in der Gestaltung meiner Zeit, andererseits sammeln sich bei mir auch mehr Probleme, die Lösungen fordern und die ich nicht mehr delegieren kann. Der Fahrtwind ist rauer, wenn man ganz vorne steht.
Johannes: @Matthias: Dein Wechsel in die Lukas-Gemeinde nach Berlin ist ja ein beinahe zweijähriger Weg gewesen, von dem ersten Denkanstoß bis zum Umzug gerechnet. Vollzieht sich in diesen vielen Monaten in einem nicht schon ein ‚innerer Exodus‘? Was hat Dich bewegt und angetrieben auf der Zielgeraden in Barmbek-Süd? Woraus hast Du Motivation gezogen?
Matthias: Eigentlich waren es nur die letzten 6 Monate, wo ich wirklich gemerkt habe: Es bleibt nicht mehr, wie es ist – als nämlich die Gemeindeleitung der Lukas-Gemeinde mich berufen hat. Die anschließenden zweieinhalb Monate bis zum finalen Votum der Mitgliederversammlung der Lukas-Gemeinde waren für mich mühsam und zäh. In diese Zeit hinein hat mir ein Mentor geraten, loszulassen. Die Ziele der Christus-Gemeinde Hamburg waren meine Ziele, ich hatte mich zu 100% mit ihrer Vision und den Menschen dort identifiziert. Du kannst so einen Lauf nicht im Sprint beenden. Ich denke, dass auch Daniel das gebraucht hat, auf dieser letzten Wegstrecke zu spüren, wie ich zurücktrete, ihm mehr Raum gebe und ihn unterstütze. Dann kommen die Wochen der ‚letzten Male‘, der Abschiede, der letzten Telefonate, Gottesdienste, Sitzungen …
Johannes: Was für eine Rolle haben Eure Kinder bei den Wechselüberlegungen gespielt; gab es da einen wichtigen Gesichtspunkt für Euch?
Matthias: Natürlich hat das gleich nach dem geistlichen Empfinden und den vernünftigen Argumenten eine gewichtige Rolle gespielt. Für uns war klar: Wenn wechseln, dann am besten bevor die Kinder in die Pubertät kommen, so dass sie sich vor diesem einschneidenden Entwicklungsschub neu in Beziehungen beheimaten können.
Johannes: Nochmal @Matthias: Du gehörst jetzt zu einem pastoralen Team und trägst nicht mehr explizit pastorale Letzt- oder Hauptverantwortung für eine Gemeinde – wie fühlt sich das für Dich an im Vergleich zu vorher?
Matthias: In mir selbst hat sich nicht viel verändert, weil ich einfach für das Gesamte denke und nicht nur für den Teilbereich, für den ich Verantwortung trage – das ist in der Lukas-Gemeinde – grob gesagt – neben den allgemeinen pastoralen Aufgaben der Bereich Gottesdienst und die Begleitung der Leitungsteams für die Gruppen bis 30 Jahre. Bisher geht es mir sehr gut damit. Ich kann sehr wirksam und teamorientiert arbeiten. Die Last ist schon leichter.
Johannes: Wir kommen zur Schlussfrage an Euch beide. Ihr habt beide eine weitreichende Lebensentscheidung getroffen mit großen Konsequenzen für Eure Gemeinden und Eure Familien. Was sagt Ihr Leuten, die vor solchen Entscheidungen stehen?
Matthias: Ich habe vor einiger Zeit ein Buch mit dem Titel ‚Halftime‘ gelesen. Darin wird Pastoren empfohlen, gerade dann einen Wechsel zu erwägen, wenn sich alles gut entwickelt – und nicht zu warten, bis alles schwierig ist. Für mich war in der Rückschau der Wechsel eine gute Erfahrung: mit einem guten Gewissen, Dankbarkeit, Stolz und erfüllt gehen zu dürfen … als alle es schade fanden!
Daniel: Es ist in solchen Phasen besonders kostbar, Menschen zu haben, die einem die Wahrheit sagen. Matthias hätte mich nicht angefragt, wenn er es nicht ehrlich gemeint hätte. Der Austausch mit Kollegen, die so eine Entscheidung schon hinter sich hatten, hat mir geholfen.
Johannes: Vielen Dank für Eure Offenheit!
(C) 2022 Johannes Euhus
Copyright Bild „Lesender Spiderman“: Photo by Road Trip with Raj on Unsplash
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