Gemeindegründung: Wie aus einer Gemeinde ein Gemeindenetzwerk wurde
12. Juni 2014Wir gründen mit einem Pionierehepaar: 1965-1998
Die Gemeinde in Hamburg bestand schon, als der Mülheimer Verband gegründet wurde. Nach dem 2. Weltkrieg hatten sich die Gläubigen zerstreut. Der Gemeindeälteste, Christian Torke, sammelte die übrig gebliebenen Gemeindeglieder und startete mit Stubenversammlungen und später Gottesdiensten im Klassenraum einer Schule. Gleichzeitig sammelten sich Flüchtlinge aus Pommern und Ostpreußen, die dort zu unserem Verband gehört hatten, und begannen mit regelmäßigen Hausversammlungen. Prediger Fritz Mohn besuchte beide Versammlungsorte regelmäßig.
Der erste mutige und glaubensstarke Schritt wurde mit dem Kauf einer alten Villa 1964 gemacht. Aus zwei großen Zimmern entstand der Versammlungsraum (55 qm), in dem gemeinsame Gottesdienste durchgeführt wurden. Und der nächste Glaubensschritt war ein Jahr später 1965 die Berufung von Reiner Tudzynski, einem jungen Prediger, der frisch vom Predigerseminar kam.
Mit dem Einstieg von Reiner Tudzynski als leitender Pastor in Hamburg (1965) begann eine Zeit des Umbaus für die „Christliche Gemeinschaft Hamburg“. Als er kam, fand er eine Gemeinde mit einem relativ hohen Durchschnittsalter und beengten räumlichen Verhältnissen vor. Nach etwa zehn Jahren machte es die gute Entwicklung der Gemeinde notwendig, ein größeres Gemeindegrundstück zu erwerben. Eine Lagerhalle wurde zum Gemeindesaal umgebaut (270 qm) und Räume für Kinder- und Jugendarbeit erstellt. Das war nicht nur ein Kraftakt der Gemeinde, sondern auch ein weiterer mutiger Glaubensschritt. 1979 war die Einweihung des Gemeindezentrums in der Gluckstraße 7.
Etwa 15 Jahre später war die rund 100 Mitglieder starke Gemeinde im Altersdurchschnitt relativ jung und tat sich außerdem leicht damit, die monatlichen Raten für ihr großzügiges Gemeindegebäude aufzubringen. Hier beginnt die Geschichte der Hamburger Gemeinde als Muttergemeinde: 1993 wurde Reiner Tudzynski (damals auch Vorsitzender der Evangelischen Allianz Hamburgs) gebeten, eine Gemeinde in Lüneburg zu gründen.
Die in Sachen Gemeindegründung weitgehend unerfahrene Gemeindeleitung sah hinter dieser Anfrage Gottes Aufforderung („Komm herüber und hilf uns“) und begann mit regelmäßigen Gottesdiensten in Lüneburg in einem angemieteten Raum in einem Hotel. Ein Gemenge von erstaunlichem Reden Gottes und „grimmiger Entschlossenheit“, in Lüneburg eine Gemeinde entstehen sehen zu wollen, und einer vagen Hoffnung, dass ein Pastorenwechsel in Hamburg „dran“ sein könnte, führte dann 1996 zu einem mutigen Entschluss: Mit Unterstützung der Hamburger Gemeinde sollten Tudzynskis vollzeitig in Lüneburg der kleinen Gemeinde, die durch die regelmäßigen Gottesdienste und einen Hauskreis entstanden war (etwa 12 Personen), beim Wachsen helfen.
Es folgten harte Jahre für die in Lüneburg engagierten Personen und ein paar Mal wurde geweint im Angesicht des zunächst ausbleibenden Erfolges. Vor diesem Hintergrund formulierten wir in Hamburg 1998 fünf Ziele für unsere Gemeindearbeit für die Jahre bis 2003. Das fünfte Ziel bezog sich auf Gemeindegründung: Wir wollten alles tun, damit in Lüneburg die Arbeit gelingen kann und uns zeitgleich für einen nächsten gemeindegründenden Schritt“ vorbereiten. Zu diesem Zeitpunkt war das ein geradezu wahnwitziger Mut.
Wir gründen eine „ganz normale“ Tochtergemeinde: 1998-2005
Zu unserer aller Freude (und manchmal auch Überraschung) hat Lüneburg sich erst einmal stabilisiert und dann (nach einem aberwitzigen Gemeindehauskauf) sind sie auch noch gewachsen. Bis heute. Lüneburg allein ist heute stärker als es die aussendende Muttergemeinde damals war. Zeitgleich wuchs unter der Leitung unseres Gemeindeleitungsmitgliedes Regina Gaßmann ein feines Netz von Hauskreisen in Barmbek-Nord und in unserer Gemeinde wuchs der Gottesdienstbesuch.
So war es nur folgerichtig, dass wir Regina 2003 gebeten haben, eine Gemeinde zu gründen. Diesmal aber nach Lehrbuch: Es gab im Zentrum eine starke Leiterin, drum herum ein motiviertes Kernteam, ein Kleingruppennetz, es bekehrten sich Menschen im Umfeld der Kernleute. Während keine regelmäßigen Gottesdienste gefeiert wurden (man ließ sich in der Muttergemeinde bedienen), starteten Gebetsinitiativen, gab es Treffen auf einem Bauspielplatz, wuchsen die Kleingruppen auf fünf an.
2005 haben wir dann zusätzlich zu Reginas außerordentlichem ehrenamtlichen Engagement einen Pastor angestellt, eine Büroetage gemietet und sind mit regelmäßigen Gottesdiensten am Sonntag gestartet. So langsam wuchs zeitgleich in der weiterhin stetig wachsenden Muttergemeinde das Gefühl, dass Gemeindegründung auch häufiger gelingen könnte.
Gebet bewegt
Die CG Barmbek-Nord hatte eine lange Vorbereitung durch Gebet. Seit 1998 gab es schon 14-tägig Gebetsspaziergänge in Barmbek-Nord um die Einkaufsstraße, für die verschiedenen Einrichtungen und die Zukunft im Stadtteil. Gebet bewegt. In der Gründungsphase ab 2003 kam es zeitgleich passend durch politische Entscheidungen zu vermehrten Vernetzungen im Stadtteil, zu denen wir dann als neue „Kirche“ von Anfang an ganz natürlich gehören konnten.
Stadtteilgemeinde sein
Stadtteilgemeinde sein ist natürlich, aber auch ein Bekenntnis: Vor Ort für und mit den Menschen, die dort tatsächlich leben. 50% unserer Mitglieder und Freunde wohnen in Barmbek-Nord oder angrenzend und können zu Fuß kommen. Zentral mitten an einer Einkaufsstraße zu sein, bedeutet für uns aber auch Verzicht auf Eigentum, hohe Mietpreise, Verzicht auf einen Gemeindegarten und über die Jahre hinweg den Wegzug von Familien, die gerne „im Grünen“ wohnen möchten …
Es war gut, das Gemeindegründungsprojekt, das 2003 im März beschlossen wurde, zunächst innerlich durch (zusammen-) wachsende Hauskreisarbeit zu stärken. 2005 im Herbst startete dann eine überschaubare, aber starke und vielseitig begabte Gruppe von 30 Mitgliedern der Muttergemeinde und 10 Freunden plus 25 Kindern mit attraktiven Gottesdiensten und Angeboten. Weniger wäre mühsam gewesen.
Wir gründen eine komplette zweite Gemeindefiliale: 2005-2011
Aus unserer Gemeindeleitung in der Muttergemeinde war damit die einzige Pionierin verschwunden. Wir hatten also Lust auf mehr neue Gemeinden („Es geht doch. Weitermachen!“) – und keine geeigneten Leiter, die sich aufdrängten. Aber die Gemeinde wuchs und litt zeitgleich unter der seit 2001 bestehenden Trennung in zwei Gottesdienste (11 und 19 Uhr).
Wir machten als Gemeindeleitung unsere Hausaufgaben und beschlossen die Prüfung, ob ein größeres Gemeindegebäude auf unserem Grundstück oder in der Nähe möglich wäre. Das war es tatsächlich – aber wir waren als Gemeindeleitung seltsamer Weise einig, dass wir nun doch nicht bauen wollten. Und machten noch einmal unsere Hausaufgaben.
Am Ende entschieden wir uns zu einem – im deutschen Raum zumindest – sehr ungewöhnlichen Weg: Wir teilten die Gemeinde (wie einen zu großen Hauskreis, den man ja auch irgendwann teilen wird, damit mehr Menschen profitieren können). Wir hätten uns das nicht getraut, wenn wir nicht zwei kompetente Leiter gehabt hätten (zu Pastor Sven Godau war 2005 Matthias Pache als Vikar hinzu gekommen), wachsende Kleingruppen unsere Erfahrung gewesen wären, wir nicht schon Erfahrungen mit Gemeindegründung gesammelt hätten – und keine Gemeinde gehabt hätten, die in den Jahren gelernt hatte, mutige Entscheidungen für das Reich Gottes zu fällen.
Nach anfänglichem Schock reagierte die Gemeinde sehr positiv und bis auf wenige Ausnahmen bestätigen alle Beteiligten vier Jahre später, dass die Entscheidung gut war. Zwischen dem Beschluss zu bauen (2007) und dem Start der zweiten Gemeinde (2011) verloren wir viel Dynamik, zu groß war unsere Unsicherheit. Aber nach dem Start der Gemeindeteilung, die wir im Februar 2011 umsetzten, zog das Wachstum der Muttergemeinde, also der größeren Hälfte (etwa 130 Mitglieder damals) wieder an. Die kleinere Hälfte (damals etwa 90 Mitglieder), ohne eigenes Gebäude und in dieser Zeit „Untermieter“ der Muttergemeinde in einem Wohnumfeld, in dem wir nicht missionieren wollten, ohne Sicherheit, wo wir letztlich landen würden, mit Gottesdiensten am Sonnabend um 16.30 Uhr, ist aktuell wieder voller Tatendrang, da wir endlich nach vier Jahren Suche ein neues Gebäude haben.
Ganz normale Gemeindearbeit: 2011 bis heute
Im März 2014 starten wir als Christus-Gemeinde Bramfeld mit ganz normaler Gemeindearbeit im eigenen Gebäude: Sonntägliche Gottesdienste, zwei Lobpreisgruppen, fünf Kindergruppen, sieben Kleingruppen/Hauskreise. Abgesehen vom recht niedrigen Durchschnittsalter der ganz normale Gemeindealltag.
Ebenso arbeiten Barmbek-Süd und Barmbek-Nord in ihren Nachbarschaften, mit ihren Besuchern, mit ihren Möglichkeiten. Um als jeweils mittelgroße Gemeinden (jeweils zwischen 90 und 140 Mitgliedern und zwischen 70 und 150 erwachsenen Gottesdienstbesuchern) trotzdem nicht nur klein zu sein, haben wir uns zu einem gemeinsamen Seminar- und Veranstaltungsprogramm entschieden („Change“). Mit diesem Instrument können wir manche Möglichkeiten großer Gemeinden (gutes Schulungsangebot, besondere Gäste, große Kinderfreizeiten) zu den Chancen kleiner Gemeinden (persönliche Ansprache, hohe Beteiligung in der Mitarbeit, kurze Wege zwischen Leitung und dem einzelnen Mitglied, …) hinzufügen.
Die Zukunft, die außer Gott keiner kennt
Barmbek-Süd hat den gefühlten Auftrag, irgendwann einmal „jenseits der Alster“ eine Gemeinde zu starten – wird Gott das irgendwann schenken? Zumal die Gemeinde inzwischen tolle Möglichkeiten hat, auf ihrem Grundstück Platz für mehr als 400 erwachsene Gottesdienstbesucher zu schaffen und diejenigen, die eher von „großer Gemeinde“ träumen, sich für diese Gemeinde bei der Teilung entschieden haben.
Die Gemeinde Hamburg-Bramfeld ist mit dem neuen Gemeindezentrum am nordwestlichen Rand des Gebietes gelandet, wo man ursprünglich hin wollte. Ein paar Kilometer weiter könnten irgendwann wieder einige aus der Gemeinde eine neue Gemeinde gründen.
In Barmbek-Nord ist mit Regina Gaßmann eine passionierte Gründerin Leiterin – es wäre schon fast verwunderlich, wenn deshalb nicht irgendwann eine weitere Gemeinde entsteht, zumal Barmbek-Nord sehr auf den Stadtteil ausgerichtet ist und Mitglieder anderer Stadtteile vielleicht irgendwann Lust auf Arbeit in ihrer eigenen Nachbarschaft bekommen könnten.
Es wäre also ein Segen, aber kein „auf-dem-Wasser-gehen-Wunder“, wenn wir in zehn Jahren sechs Christus-Gemeinden in Hamburg sein würden. Und es wäre nicht verwunderlich, wenn Gemeinden irgendwann Lust auf Größe hätten (dieser Wunsch ist so alt wie die Christenheit …). Uns soll alles recht sein: Solange Menschen dazukommen und in Christus immer tiefer verwurzelt werden.
Was hat das Thema „Gemeindegründung“ mit uns in Hamburg gemacht?
- Viele wichtige Meilensteine, Gottesbegegnungen, Erfahrungen von Versorgung der Gemeinde(n) in den letzten 20 Jahren haben etwas mit Gemeindegründung zu tun gehabt. Vielleicht wären wir um ein paar gute Erfahrungen ärmer, wenn wir nicht Gemeindegründung versucht hätten.
- In Hamburg sind wir für viele Gemeinden eine handfeste Ermutigung: „Es geht noch was in dieser Stadt, jenseits von wachsenden internationalen Gemeinden.“ Gerade für traditionellere Gemeinden ist unser „Erfolg“ auch ein klein bisschen ihr Erfolg.
- Gute, eher pionierhafte Leute, haben sich bei uns festgemacht und entwickelt und manch eher bewahrender Typ hat durch unsere Schritte gelernt, mit Ungewissheiten besser umzugehen – es wurde ihnen durch die Gemeinde vorgelebt. Jemand sagte mal, dass das Problem kleiner Gemeinden die Leute seien, die sich dort „wohlfühlen würden“. Der Spruch stimmt vermutlich. Aber ist es nicht auch so, dass das Problem großer Gemeinden ebenfalls die Leute sind, die sich dort wohlfühlen? Wir alle sind Teil des Problems – möge Gott schenken, dass wir auch ein großer Teil der Lösung sind.
- Wir haben immer enorm viele gute Mitarbeiter gehabt. Waren sie die Basis für erfolgreiche Gemeindegründungen oder waren sie Gottes Unterstützung für unseren Mut, das Reich Gottes dauerhaft auszubreiten (einzelne Christen kommen und gehen, Gemeinden bleiben länger …)?
- Wir sind gewachsen. Heute haben wir an einem normalen Gottesdienst-Tag in allen drei Hamburger Gemeinden zusammen mehr Kinder im Alter bis zu 12 Jahren als wir vor 18 Jahren erwachsene Gottesdienstbesucher hatten.
- In den kommenden Jahrzehnten werden wir erleben, wie einige Gemeinden von uns aufblühen und andere in Schwierigkeiten geraten werden. Meine Hoffnung ist, dass blühende Gemeinden dann den Schwächeren beistehen, sie herausfordern und letztlich wieder in eine Segensbahn zurückhelfen. Gemeindegründung sozusagen als „Risikostreuung“.
- Große (wachsende!) Gemeinden sind ein Segen für andere kleinere Gemeinden. Das konnten wir nicht umsetzen oder zumindest nicht so sehr, wie wir es als eine größere Gemeinde hätten tun können. Und auch die Öffentlichkeit nimmt uns kaum wahr (was in Hamburg allerdings auch einer 1.000-Mitglieder-Gemeinde geschehen kann). Vielleicht ist das der „Schaden“ den wir dem Reich Gottes zugefügt haben.
- Und das Wichtigste: Es sind Menschen zum Glauben gekommen, die vielleicht/wahrscheinlich Jesus nie kennengelernt hätten ohne diese neu gegründeten Gemeinden. Ihnen und ihrem Retter gehört unsere Hingabe, heute und hoffentlich noch viele Jahre.
Sven Godau ist Pastor der Christus-Gemeinde Hamburg-Bramfeld und Ältester (1. Vorsitzender) des MV-Nordwestbundes