Mülheim: Präses Ekkehart Vetter zur Jahreslosung 2011
27. Januar 2011(Römer 12,21, Jahreslosung 2011)
Mit dem Bösen haben wir es nicht so. Wer oder was sollte mir denn in meinem kleinen bürgerlichen Leben als „Böser“ oder als „Böses“ begegnen? Ist die Welt mit diesem Pauluswort nicht viel zu schnell und undifferenziert in gut und böse, in schwarz und weiß eingeteilt? Und selbst wenn Menschen mit mir anders umgehen, als ich es gern hätte, sind sie deswegen gleich „böse“? Steht der Chef mit seinen einsamen Entscheidungen nicht auch unter Sachzwängen …
Hätte mein seelsorgerlicher Rat an die Christen in Rom nicht viel mehr Konjunktive enthalten? Vielleicht so: Für den (unwahrscheinlichen) Fall, es könnte dir tatsächlich mal irgendetwas wirklich Böses begegnen, dann würde ich dir raten, dir Mühe zu geben, es mit Gutem zu überwinden.
Aber je länger ich drüber nachdenke, frage ich mich, ob ich mir mit meinen vielen Konjunktiven die Welt und mein eigenes Herz und Denken nicht schön rede.
Ich erinnere mich an die Bergpredigt Jesu. Jesus radikalisiert dort alttestamentliche Gebote: Wenn du deinen Bruder verbal oder gedanklich verfluchst und ihm die Pest an den Hals wünscht, dann ist das genauso, als wenn du ihn faktisch umgebracht hast. Oder wenn du eine Frau anschaust, und sie in deiner Phantasie zu dir ins Bett holst, dann ist das genauso, als hättest du tatsächlich mit ihr geschlafen und die Ehe gebrochen. Ist das Böse wirklich so weit weg, wie meine gedanklichen Konjunktive glauben machen wollen?
Ist es so locker und einfach, die zu segnen, die mich verfolgen (V.14)? Das ist im Kontext der Jahreslosung 2011 aber offensichtlich paulinischer Standard für Menschen, die den Namen des liebenden und barmherzigen Christus tragen. Ist es so selbstverständlich, niemandem Böses mit Bösem zu vergelten (V.17), mit allen(!!) Menschen von meiner Seite aus Frieden zu halten (V.18)? Ist es im Jahr des zehnten Jahrestags von „nine eleven“ für Christen klare Sache, möglichen Feinden zu essen und zu trinken zu geben (V.20), das heißt, ihnen Leben und Existenz zu ermöglichen?
Ich erahne, dass „das Böse“, von dem Paulus spricht und von dem ich mich nicht überwinden lassen soll, näher ist, als ich meine, dass es immer wieder in meine Gedanken und Intentionen Einzug hält und, wenn auch nicht gleich mit ausgefahrener Faust und zupackendem Würgegriff, in meinem Herzen, für andere hinter frommer Fassade weitgehend unsichtbar, durchaus fröhliche Urständ feiert. Ich bin nicht immun. Der Bazillus alter Rachegefühle und hämischer Schadenfreude nistet sich eher ein als ich mir eingestehen will.
Was tun angesichts dieser ernüchternden Diagnose? Es klappte schon für Lügenbaron Münchhausen nicht, sich selbst an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen. Ich brauche Hilfe von außen. Hebräer 4,15 zeigt mir den optimalen Adressaten für meinen Hilferuf. Es heißt dort von Jesus, dass er „mit leiden kann mit unserer Schwachheit“, denn er wurde „versucht in allem wie wir, doch ohne Sünde“. Beides ist entscheidend. Jesus erlebte die Versuchungen des Bösen hautnah und real (Matthäus 4,1-11), doch er blieb ohne Sünde! ER kann helfen!
Ich brauche IHN an meiner Seite, wenn es gilt, das Böse mit Gutem zu überwinden. ER ist Schrittmacher und Vorbild, Ermöglicher und Kraftquelle auf diesem wirklich außergewöhnlichen Weg. Und Seine Standards gelten. Manche habe ich so oft im Munde geführt, dass ich ihre Radikalität kaum noch wahrnehme: …und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und wir war das noch mit dem Darbieten der anderen Backe, wenn ich auf die eine schon einen Schlag bekommen habe (Matth 5,39)?
Überwinde das Böse mit Gutem – Paulus hatte wohl auch Jesus vor Augen, und fordert darum zu einem offensiven Lebensstil des Wohlwollens für alle Menschen auf, gerade auch gegenüber denen, die sich alles andere als wohlwollend gegenüber mir verhalten. Wie wäre es, in meinem Alltag eine durch und durch ehrlich gemeinte Standardfrage in Kopf und Herz zu tragen, wann immer mir Menschen begegnen, unabhängig davon wie sie mir begegnen und was sie zu mir sagen: „Wie kann ich ihm / ihr etwas Gutes tun?“ Wie wäre es, wenn die alten Wie-du-mir-so-ich-dir – Reflexe abgelöst werden von neuem Denken und neuem Handeln?!
Von einem alten chinesischen Kaiser wird berichtet, dass er das Land seiner Feinde erobern und sie alle vernichten wollte. Später sah man ihn mit seinen Feinden speisen und scherzen. „Wolltest du nicht deine Feinde vernichten?“ fragte man ihn. „Ich habe sie vernichtet“, gab er zur Antwort, „denn ich machte sie zu meinen Freunden!
Ekkehart Vetter
Präses des Mülheimer Verbandes Freikirchlich-Evangelischer Gemeinden